“Um einen erneuten Genozid zu verhindern, muss Schengal einen Status als autonome Region unter Selbstverwaltung erhalten”
Konferenzbericht “Genozid und Femizid an Ezid*innen: Traumaverarbeitung braucht Anerkennung, Schutz, Selbstorganisierung und Gerechtigkeit”, 15.03.2017 http://civaka-azad.org/um-einen-erneuten-genozid-zu-verhindern-muss-schengal-einen-status-als-autonome-region-unter-selbstverwaltung-erhalten/
Drei Tage nach dem 8. März, dem Internationalen Kampftag der Frauen, wurde vom 11. bis 12.03.2017 im Rathaus von Bielefeld eine bedeutende internationale Frauenkonferenz durchgeführt: „Genozidale Angriffe auf Ezidische Frauen und Wege des Widerstandes gegen Völkermord“. Hintergrund der Konferenz war der Angriff des Islamischen Staats (IS) gegen die kurdische Religionsgemeinschaft der Ezid*innen in Schengal am 3. August 2014, der einen Massenmord und die Versklavung von tausenden Frauen und Kindern sowie zahlreiche weitere Verbrechen des Genozid und Femizid einleitete. Durchgeführt wurde diese Konferenz von Ezidischen Frauen des Dachverband des Ezidischen Frauenrats, des Kurdischen Frauenbüro für Frieden – Cenî und von Frauen der Plattform for Struggle for Women held in Captivity.
Die Konferenz brachte eine große Breite an Akteurinnen in eine gemeinsame Auseinandersetzung um den Genozid an Ezid*innen, Femizid (Ermordung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts), Traumaarbeit und die notwendige Selbstorganisierung: Als internationale Juristin und Beraterin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) und der UN-Menschenrechtskommission zu geschlechtsspezifischer Gewalt, als Psychologin oder Psychotherapeutin, die zu Folter und Straflosigkeit arbeitet, als Politikwissenschaftlerin oder Politikerin, als Teilnehmerin von Untersuchungen zu Menschenrechtsverbrechen, als Menschenrechtsaktivistin, Lehrerin, feministische Friedensforscherin, Journalistin, Dokumentarfilmerin, Frauenrechtsaktivistin, als Studentin, als Betroffene oder als Mutter hatten insgesamt 250 Frauen aus verschiedenen Ländern ein Anliegen an den Fragen dieser Tagung.
Die Teilnehmerinnen der Konferenz haben den Schmerz derjenigen mitempfinden können, die in Schengal die Ermordungen ihrer Liebsten mitansehen mussten, die beinahe alle Angehörigen und alle Güter verloren, die vertrieben wurden, Hunger und Durst litten, die versklavt, gefoltert, gedemütigt, vergewaltigt, verkauft und in den Selbstmord getrieben wurden. Als die jetzt 17-jährige Ikhlas Bajoo die Geschichte ihrer Versklavung am 3. August 2014 durch den IS erzählte, liefen überall im Saal Tränen über die Gesichter und die Übersetzer konnten nur mit emotional gebrochenen Stimme weiter machen. Es ist schwer und doch sehr bedeutend, dass diese Geschichten öffentlich erzählt werden. Die vorgetragene Analysen zum patriarchalen Imperialismus des IS, zum den rechtlichen Elementen von Genozid-Verbrechen oder auch zu den psychischen und physischen Symptomen der Schädigung durch extreme, traumatisierende Erfahrungen haben so einen emotional begreifbaren Boden erhalten. „Mein kleines Mädchen, mach dir keine Sorgen, wir stehen alle an deiner Seite.“ Ikhlas, die auch fast ihre gesamte Familie verloren hat, erhielt viele bestärkende Antworten über das Saalmikrofon. „Vielen Dank Ikhlas, für deinen Mut, für deinen Widerstand, den du geleistet hast. In der Gefangenschaft, aber auch jeden Tag danach.“ Ikhlas wird weiter ihre Geschichte erzählen, doch sie erwartet auch, dass andere nach ihren Möglichkeiten handeln: „Ihr habt studiert, ihr habt Diplome, ihr mit euren Stiften, bitte tut etwas.“
„Die stärksten Frauen sind die, die organisiert sind“
Auf der Konferenz wurden zahlreiche Konsequenzen aus dem IS-Massaker und den multiplen, genderspezifischen Genozid-Verbrechen, die mit dem Angriff auf Schengal am 3. August 2014 begannen, dargestellt: Das umfasste bereits begonnene, noch auszuweitende Projekte, zum Beispiel der Traumaarbeit, wie auch weitere noch zu entwickelnde. Grundlegend für die Verarbeitung der Traumata wie auch für die Prävention weiterer solcher Verbrechen sind die nach 2014 aufgebauten Strukturen der Selbstverwaltung der Ezid*innen in Schengal. Aus tiefster Überzeugung, mit Dankbarkeit und Hoffnung wurden aus diesem Grund die Rednerinnen, die die eigenständige Frauenselbstorganisierung der Ezidinnen repräsentierten, mit großem Ethusiasmus begrüßt: Dayê Bihar von der Ezidischen Freien Frauenbewegung in Schengal (TAJÊ), die den Ezidischen Frauenrats in Schengal mitgegründet hat, Zahra Shengali von TAJÊ, die beim Aufbau des Schengal Volksrats mitarbeitet und den Jugendrat mitgegründet hat und Zeynep Cudi, die in den Frauenverteidigungseinheiten von Schengal (YJŞ) aktiv ist. Diese für die Diskussion auf der Konferenz so bedeutenden Expertinnen aus der Praxis konnten aufgrund der Verweigerung von Visa nicht körperlich anwesend sein, waren es jedoch mittels Live-Video-Schaltungen. Ihre Beiträge gaben sehr wichtige Impulse für die Diskussion und haben die Zuversicht für die Verwirklichung der Ziele der Konferenz gestärkt.
Die abschließend diskutierten Beschlüsse sind umfangreich. Die seit dem 3.8.2014 verübten Verbrechen an Ezid*innen müssen durch unabhängige Kommissionen untersucht, aufgeklärt und als Genozid anerkannt, die Straftäter identifiziert und vor Gericht gebracht werden. Die noch vom IS gefangenen gehaltenen Frauen, Mädchen und Jungen müssen durch einen effektiven Kampf befreit werden. Um einen erneuten Genozid zu verhindern müssen die YJŞ als legitime Verteidigungseinheiten anerkannt werden und Schengal einen Status als autonome Region unter Selbstverwaltung erhalten, der insbesondere auch international und durch die UN schützende Anerkennung erfährt. Diese selbstverwaltete Region braucht Unterstützung, um die Lebensmöglichkeiten dort sicherzustellen sowie bei der Bearbeitung der Folgen von Krieg und Massaker. Geflüchtete werden eingeladen dorthin zurückzukehren. Der 3. August soll ein Internationaler Kampftag gegen Femizid werden.
Mit annähernd 30 Vorträgen wurde der geopolitische, historische, juristische, humanitäre und patriarchal-misogyne Hintergrund der Ereignisse seit dem 3. August 2014 analysiert sowie die Möglichkeiten der Aufarbeitung und Prävention von erneuten, genozidalen und gegen Frauen gerichteten Angriffen. Die Fragen der internationalen Strafverfolgung des Genozid und Femizid einerseits und der Aufarbeitung der individuellen und gesellschaftlichen Folgen andererseits wurden kompetent und in die Zukunft gerichtet bearbeitet. Wer wusste schon vorher, dass beispielsweise bereits allein die Entfernung von Kindern aus ihren Familien, um diese anderen kulturellen und religiösen Werten und Zielen, in diesem Fall denen des IS, zu unterwerfen – sexuelle Versklavung der Mädchen und Ausbildung zu Tötungsmaschinen gegen ihre eigene Herkunftsgemeinschaft der kleinen Jungen – auch ohne jede weitere Tötung bereits ein Genozid-Verbrechen darstellt? Diese Konferenz wurde über das erweiterte und in komplexe Zusammenhänge gebrachte Wissen hinaus für alle Teilnehmerinnen zu einem herausragenden Ereignis mir tiefen Emotionen – Traurigkeit, Wut, Mitgefühl, Freude und Zuversicht. Der Ernsthaftigkeit des Anlasses wurde mit menschlicher Nähe und Verbundenheit mit den Betroffenen, die ihr Schicksal mutig in die eigene Hand nehmen, gekoppelt.
Das bildete die Grundlage für den Willen zu großen Veränderungen, die auf der Konferenz diskutiert wurden.
„Mein legaler Rahmen kann euren Schmerz nicht wegnehmen, aber es kann helfen als ein Werkzeug“
Die Eröffnungsrede von Patricia Sellers aus den USA, Strafrechtsexpertin zu Humanitärem Recht und Gender sowie zu internationalen Menschenrechten, Beraterin der UN, des ICC, internationaler Organisationen, von Regierungen und zivilgesellschaftlichen Gruppen, hat dazu einer starken Auftakt gemacht: Sehr strukturiert wurden von ihr die zentralen Elemente und die Reichweite der UN-Konvention zu Genozid wie auch deren Unzulänglichkeit in Bezug auf geschlechtsspezifische Gewalt und Gewalt gegen Kinder erläutert und das ergänzt mit Begriffserklärungen zu Sklaverei, Sklavenhandel und Menschenhandel. Doch sie hat auch von sich selbst als Nachfahrin von Sklaven gesprochen; davon wie die Verletzungen auch ihr Leben beeinträchtigen, da diese über Generationen weitergegeben werden. Ihre Person – eine starke, aufrechte Frau, die bereits in den internationalen Strafverfahren zum früheren Jugoslawien und zu Ruanda für die Aufarbeitung insbesondere auch der Gewalt gegen Frauen im Rahmen von Genozid-Anklagen gestritten hat – stand somit auch symbolisch dafür, dass erfahrene Verletzungen und Schmerzen sehr lange weiter bestehen und nicht vergessen werden können, aber deshalb nicht zwangsläufig ohnmächtige Opfer zurück lassen, die passiv auf Hilfe von außen warten sollten.