Der Ausschluss der Frau aus den Rängen und Themen der Wis- senschaft verlangt von uns die Suche nach einer radikalen Alter- native.
Wir müssen zunächst wissen, wie wir in der ideologischen Are- na gegen die herrschsüchtige und machthungrige Mentalität des Mannes gewinnen und ein libertäres und natürliches Denken schaffen können. Wir sollten uns immer vor Augen halten, dass die traditionelle Unterwerfung der Frau nicht physisch, sondern gesellschaftlich ist. Dies liegt an der tief verwurzelten Sklaverei. Daher besteht die dringende Notwendigkeit, die Gedanken und Gefühle der Unterwerfung in der ideologischen Arena zu besie- gen.
Wenn der Kampf für die Freiheit der Frau sich auf die politi- sche Ebene verlagert, sollte sie wissen, dass dies der schwierigste Aspekt des Kampfes ist. Kein Erfolg kann von Dauer sein, wenn der politische Erfolg nicht erzielt wird. Politisch erfolgreich zu sein bedeutet nicht, eine Bewegung für die Staatlichkeit der Frau zu starten. Im Gegenteil beinhaltet er einen Kampf gegen etatis- tische und hierarchische Strukturen, er beinhaltet die Schaffung von politischen Gruppierungen mit dem Ziel, eine demokrati- sche, geschlechterbefreite und ökologische Gesellschaft zu errei- chen, in welcher der Staat kein zentrales Element darstellt. Da Hierarchie und Etatismus nicht leicht mit der Natur der Frau kompatibel sind, sollte eine Bewegung für die Freiheit der Frau anti-hierarchische und nichtstaatliche politischen Formationen anstreben.
Der Zusammenbruch der Sklaverei auf der politischen Ebene ist nur möglich, wenn organisatorische Reformen in die- sem Bereich erfolgreich durchgeführt werden. Der politische Kampf erfordert eine umfassende, demokratische Organisation der Frau und des Widerstandes. Alle Komponenten der Zivilge- sellschaft, Menschenrechte, lokale Regierungsführung und de- mokratische Kämpfe müssen organisiert und vorangetrieben werden. Wie der Sozialismus kann auch die Freiheit und Gleichheit der Frau nur durch einen umfassenden und erfolgrei- chen demokratischen Kampf erreicht werden. Ohne Demokratie können auch Freiheit und Gleichheit nicht erreicht werden.
Die Probleme im Zusammenhang mit wirtschaftlicher und so- zialer Gleichheit können ebenfalls erfolgreich durch eine Analyse der politischen Macht und durch die Demokratisierung gelöst werden. Eine bloße juristische Gleichheit ist in der Abwesenheit von demokratischer Politik bedeutungslos; sie wird nicht zur Verwirklichung der Freiheit beitragen. Wenn die Eigentums- und Machtverhältnisse, die die Frauen beherrschen und unterjochen, nicht gestürzt werden, dann können auch die Beziehungen zwi- schen Frau und Mann nicht frei sein.
Obwohl der feministische Kampf viele bedeutende Facetten besitzt, hat er noch einen langen Weg zu gehen, um die vom Westen gesetzten Grenzen der Demokratie niederzureißen. Er hat kein klares Verständnis davon, was die kapitalistische Lebensweise mit sich bringt. Die Situation erinnert an Lenins Verständnis der sozialistischen Revolution. Trotz großer Bemühungen und vieler gewonnener Stellungskämpfe konnte der Leninismus letztlich nicht verhindern, einen höchst wertvollen, linken Beitrag zum Kapitalismus zu leisten.
Ein ähnliches Schicksal kann den Feminismus ereilen. Mängel, die seine Durchschlagskraft schwächen, sind: das Fehlen einer starken organisatorischen Basis, die Unfähigkeit, seine Philosophie voll zu entfalten, und Schwierigkeiten beim Aufbau einer militanten Frauenbewegung.
Es wäre vielleicht nicht richtig, ihn den »Realsozialismus der Frauen-Front« zu nennen, aber unsere Analyse dieser Bewegung muss anerkennen, dass er bis dato die stärkste Maßnahme war, um die Aufmerksamkeit auf die Frage der Freiheit der Frau zu lenken. Er unterstreicht, dass die Frau lediglich die unterdrückte Frau des dominanten Mannes ist. Allerdings ist die Frau viel mehr als nur ein separates Geschlecht. Ihre Existenz hat wirtschaftliche, soziale und politische Di- mensionen. Wenn wir den Kolonialismus nicht nur in Begriffen von Nationen und Ländern betrachten, sondern auch auf Gruppen von Menschen beziehen, können wir die Frau als älteste kolonisierte Gruppe bestimmen. In der Tat ist kein anderes ge- sellschaftliches Wesen in Seele und Körper derart vollständig ko- lonisiert worden. Es muss uns klar sein, dass die Frau in einer Kolonie gehalten wird, deren Grenzen nicht leicht auszumachen sind.
In diesem Sinne glaube ich, dass der Schlüssel zur Lösung unserer gesellschaftlichen Probleme in einer Bewegung für die Freiheit der Frau, Gleichheit und Demokratie liegen wird, in ei- ner Bewegung auf Grundlage der Wissenschaft der Frau, auf Kurdisch Jineolojî. Die Kritik der jüngeren Frauenbewegung ist nicht ausreichend für die Analyse und Bewertung der Geschichte der Zivilisation und der Moderne, die die Frau nahezu völlig verschwinden ließen. Wenn in den Sozialwissenschaften Frauen- themen, Frauenfragen und Frauenbewegungen fast nicht vor- kommen, so liegt das an der hegemonialen Mentalität von Zivilisation und Moderne und an den Strukturen der materiellen Kultur.
Die Frau als Hauptkomponente der moralischen und politi- schen Gesellschaft hat eine entscheidende Rolle bei der Bildung einer Ethik und Ästhetik des Lebens, die Freiheit, Gleichheit und Demokratisierung widerspiegeln.
Ethische und ästhetische Wis- senschaft sind ein integraler Bestandteil der Jineolojî. Wegen ihrer gewichtigen Verantwortung im Leben wird sie zweifellos die trei- bende intellektuelle und umsetzende Kraft hinter Fortschritten und Chancen sein. Die Verbindung der Frau mit dem Leben ist umfassender als die des Mannes. Dies hat die Entwicklung ihrer emotionalen Intelligenz gewährleistet. Deshalb ist Ästhetik im Sinne einer Verschönerung des Lebens eine existentielle Angele- genheit für die Frau. Ethisch gesehen ist die Frau viel ver- antwortungsvoller als der Mann. So wird das Verhalten der Frau im Sinne der moralisch-politischen Gesellschaft realistischer und verantwortungsvoller als das des Mannes sein. Sie ist somit gut geeignet, in Bezug auf die guten und schlechten Aspekte von Bildung, die Bedeutung des Lebens und des Friedens, die Übel und Schrecken des Krieges sowie Zumutbarkeit und Gerechtig- keit Analysen anzustellen, Feststellungen zu treffen und En- tscheidungen zu fällen. Es wäre auch sinnvoll, die Ökonomie ebenfalls zu einem Teil der Jineolojî zu machen.