Gramsci, Öcalan und der Postmoderne Fürst
Meral Çiçek, 16.11.2016 http://civaka-azad.org/
„Machiavelli wollte mit seinem Werk „Der Fürst“ den idealen Fürsten des Mittelalters erschaffen. In Anspielung auf Machiavellis Fürsten hat Gramsci dies im Sinne der revolutionären Partei, der Führung der revolutionären Partei, ihrer Strategie und Taktiken abgewandelt. Während der Fürst von Machiavelli die Eigenschaften eines erfolgreichen Fürsten definiert, listet Gramsci die Eigenschaften der revolutionären Partei und seiner Militanten auf. Gramsci macht wichtige Analysen zur Frage, wie die sozialistische politische Organisierung geschehen muss. Ich selbst habe eigentlich den modernen Fürst von Gramsci auf die Demokratische Moderne und seinen wahrheitsliebenden Militanten angepasst. Eigentlich gibt es beachtliche Gemeinsamkeiten
zwischen Gramsci und mir.“ (Abdullah Öcalan)
Italien hat die ersten Jahre nach dem Ersten Weltkrieg auf sehr turbulente Weise erleben müssen. Nach den „zwei roten Jahren“ 1919-1920 geht der Faschismus zum Angriff über und antwortet mit den „schwarzen Jahren“: 1921 und 1922 terrorisieren faschistische Paramilitärs die linken, sozialistischen und gewerkschaftlich organisierten Bewegungen und töten Hunderte Menschen. Benito Mussolini nutzt den Moment und gründet die Nationale Faschistische Partei. Mit Unterstützung der Mittelklasse und Industrie wird er 1922 Premierminister und baut schrittweise seine faschistische Diktatur auf.
Antonio Gramsci sieht unter solchen Bedingungen der Gefahr ins Gesicht und wird 1924 als Abgeordneter der Kommunistischen Partei ins italienische Parlament gewählt. Nur zwei Jahre später wird er trotz parlamentarischer Immunität von den Faschisten verhaftet. Im selben Jahr werden jegliche gewählte Gemeinderäte abgeschafft, die Gemeinden werden unter Zwangsverwaltung eines von den Präfekten ernannten Bürgermeisters gestellt, alle noch verbliebenen antifaschistischen, linken, sozialistischen und demokratischen Organisationen werden verboten, die Presse wird mundtot gemacht, 123 oppositionellen Abgeordneten wird ihr Mandat entzogen, die kommunistischen werden verhaftet. Mit dem „Gesetz zur Verteidigung des Staates“ wird die Todesstrafe für „politische Vergehen“ eingeführt.
Gramsci wird erst nach einjähriger Haft 1927 der Prozess gemacht. Der Staatsanwalt drückt die Gefahr, die von Gramsci für die faschistische Diktatur ausgeht, mit folgenden Worten aus: „Wir müssen für zwanzig Jahre verhindern, dass dieses Hirn funktioniert.“ Gramsci wird zu zwanzig Jahren, vier Monaten und fünf Tagen Gefängnis verurteilt.
Ziel ist es, dieses grandiose Hirn unter schweren Haftbedingungen funktionslos zu machen. Aber Gramsci gelingt es – genau wie Öcalan – mit großer Willens- und Geisteskraft die paradigmatische Wiedergeburt zu realisieren. Seine 9-bändigen Gefängnishefte, in denen er die Linke einer Kritik unterzieht, die Bedingungen, unter denen der Faschismus aufsteigen konnte, analysiert und einen Ausweg sucht, sind Ergebnis dieses intensiven intellektuellen Schaffungsprozess.
Einer der wichtigsten Schlüsselworte dieser unter Haftbedingungen entwickelten Theorie von Gramsci ist sein Hegemonie-Begriff. Für Gramsci steht der Begriff Hegemonie nicht nur für Macht oder Herrschaft. Vielmehr versucht er mit Hilfe dieses Begriffs das Verhältnis von Staat und Gesellschaft zu analysieren. Er definiert in diesem Zusammenhang den Staat als „Hegemonie gepanzert mit Zwang“. Aber für Gramsci wird Hegemonie nicht nur über einen Zwangsapparat hergestellt, sondern basiert zugleich auch auf gesellschaftlichem Konsens und verfügt dementsprechend zugleich über eine umfangreiche ideologische Dimension. Das, was von Gramsci mit „gesellschaftlichem Konsens“ zum Ausdruck gebracht wird, wird von Öcalan mit dem Begriff der „ideologischen Hegemonie“ fundiert erweitert. Öcalan analysiert so die systemische und historische Verbindung zwischen Macht und ideologischer Hegemonie. Dabei misst er gar der ideologischen Hegemonie größeres Gewicht bei.
Für Gramsci benötigt der Kampf gegen die Hegemonie eine Gegen-Hegemonie. Das heißt, um wirksam gegen die hegemoniale Macht des Staates ankämpfen zu können, muss sich die Gesellschaft auf dem Niveau einer Gegen-Hegemonie organisieren und kämpfen. Für Gramsci stellt die revolutionäre Partei die Führung dieses Kampfes dar.
Der kurdische Volksführer Abdullah Öcalan nutzt bei der Entwicklung seiner eigenen Theorie die Begriffe „Kapitalistische Moderne“ und „Demokratische Moderne“. Er schreibt hierzu: „Der Moderne Fürst von Gramsci stellt die sozialistische Version von Machiavellis Fürsten dar. Wandel diesen nun in den Fürsten der Demokratischen Moderne um. Ich denke, da würde etwas Schönes rauskommen. Auch Ehmedê Xanî1 entwirft Mem als Fürsten. Aber unsere Mems und Zins wurden alle besiegt. Wir müssen unbesiegbare Mems und Zins erschaffen.“
Bei dem heute vom AKP-Faschismus aufgebauten diktatorischen Regime handelt es sich um Hegemonie pur. Abdullah Öcalan hat in seiner Verteidigungsschrift mit dem Titel „Die Kurdische Frage und die Lösung der Demokratischen Nation“, welche er im Dezember 2010 – also fast genau vor sechs Jahren – vollendet hat, die aktuellen Geschehnisse wie folgt vorausgesehen: „Die Machtergreifung der AKP stellt für den türkischen Staat eine neue hegemonische Phase dar. Die 80jährige „Weiße Türkische Hegemonie“ der Republik übergibt ihren Platz langsam und auf schmerzhafte Weise dem „Grünen Türkischen Faschismus“ der Republik, welcher so tut, als sei er moderat islamisch. Natürlich heißt dies nicht, dass der Staat vollkommen erobert ist, aber der Weg hierzu ist eingeschlagen. Der Grüne Türkische Faschismus mit Zentrum in Konya-Kayseri bewegt sich langsam aber sicheren Schrittes voran, um anstelle des Weißen Türkischen Faschismus mit Zentrum in Ankara die neue hegemonische Macht der Republik zu werden. Schon jetzt wird offen geplant, das 100. Gründungsjahr der Republik, also 2023, unter dieser Hegemonie zu begehen.“
Diese neue Hegemonialmacht kann nur durch den Aufbau einer Gegen-Hegemonie gestoppt werden. Das kurdische Volk und die kurdische Freiheitsbewegung versucht genau das. In diesem Sinne kann der Selbstverwaltungswiderstand der Kurden auch als Widerstand für die Schaffung einer Gegen-Hegemonie gelesen werden. Mit gewöhnlichen Protesten kann diese Phase nicht über- und durchgestanden werden. Unter Führung der AKP wird gerade rapide eine faschistische Hegemonie aufgebaut. Der Versuch, in Kobanê die Rojava-Revolution mit Unterstützung des IS zu ersticken, der Totalkrieg, welcher mit den Luftangriffen auf Guerillagebiet begonnen hat, die Zerstörung der türkischen Linke mit den Massakern in Suruç und Ankara, die Ausgangssperren und Massaker gegen die Selbstverwaltungsdeklarationen, die Verhaftungen von Co-BürgermeisterInnen, die Ernennung von Zwangsverwaltern, Massenverhaftungen auf dem Niveau eines politischen Genozids, die Abschaltung von Presse, die Verhaftung von HDP-Angeordneten und jetzt zuletzt die Schließung von 200 kurdischen und demokratischen Vereinen per Dekret müssen als Schritte des Aufbauprozesses der faschistischen Hegemonie gedeutet werden.
In einem Punkt ist die türkische faschistische Hegemonie recht erfolgreich: In der Entwicklung ideologischer Hegemonie. Diese ideologische Hegemonie führt dazu, dass ganze Massen, die auf der Zielscheibe dieser Hegemonialmacht liegen, den Kern dieser Hegemonie einfach nicht richtig begreifen. Manche Kreise glauben noch immer, dass die AKP früher oder später an den Verhandlungstisch zurückkehren wird und lindern die Diskussion um die Wiedereinführung der Todesstrafe mit Worten wie „Ach was, so weit werden die schon nicht gehen“. Aber sie sind sich nicht darüber bewusst, dass die heutigen Entwicklungen in der Türkei kaum einen Unterschied zu Deutschland 1933 haben. Der Genozid wiederum hat schon längst begonnen. Die einzige Möglichkeit, diesen Genozid zu stoppen liegt im Aufbau einer starken Gegen-Hegemonie mit dem Ziel, die faschistische Hegemonie zu zertrümmern. Einen anderen Weg gibt es nicht.