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Hundert Jahre Sykes-Picot: Zerstörung und Aufbau Kurdistans in Zeiten des Chaos
Aktuelle Bewertung
Aktuelle Bewertung von Nilüfer Koç, Kovorsitzende des Nationalkongresses Kurdistan (KNK), für den Kurdistan Report Nr. 185  | Mai/Juni 2016

Vor hundert Jahren, also am 16. Mai 1916, wurde zwischen Großbritannien und Frankreich das Sykes-Picot-Abkommen zur Aufteilung des Osmanischen Reiches unterzeichnet. Später wurde auch Russland einbezogen. Der britische Offizier Mark Sykes und der französische Diplomat Georges Picot hatten eine geheime Landkarte für den Nahen Osten und Nordafrika erarbeitet, in der sie die osmanischen Provinzen unter sich aufgeteilt hatten.

Das Sykes-Picot-Abkommen war Ausdruck reiner imperialer Macht ohne Berücksichtigung der Interessen und Belange der Völker der Region. Es handelte sich hier um absolute koloniale Willkür, die den Grundstein für eine Neuordnung der Region entsprechend ihren eigenen Interessen legte. Bei der Ausarbeitung der Grenzziehung berücksichtigten Großbritannien und Frankreich vor allem die reichen Wasser- und Erdölquellen der Region. Das Brutale an dem Abkommen war, dass es keineswegs Rücksicht nahm auf die Clan- und Stammesstrukturen der verschiedenen ethnischen Zugehörigkeiten. Bis zum Abkommen hatte es keine nationalstaatlichen Grenzen gegeben. Daher bewegten sich die Clans, Familien, Stämme auf verschiedenen Territorien. Mit der Grenzziehung per Lineal wurden diese Stämme dann auf die künstlich geschaffenen Nationalstaaten verteilt. Sykes-Picot war ein operativer Eingriff in die Vielfalt der Völker wie Kurden, Araber, Türken, der Glaubensgemeinschaften wie Muslime, Christen, Juden, Êzîdi, Schiiten etc. Die Region ist immer noch mit den Konsequenzen dieses brutalen Eingriffs befasst. Resultat sind die weiter andauernden Kriege, Konflikte und Spannungen zwischen Völkern und Religionen. Dieser Zustand ermöglichte den westlichen Mächten, zu tun und zu lassen, was immer sie vorhatten. Das Spiel funktionierte nach dem alten Sprichwort »Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte«.

Die Aufteilung der Region nach dem Sykes-Picot-Abkommen sah vor:

  1. Russland: Trabzon, Erzurum, Wan (Van), Bidlîs (Bitlis) und ein Teil Südostanatoliens

  2. Frankreich: nördliches Mittelmeer, Adana, Dîlok (Antep), Riha (Urfa), Amed (Diyarbakır), Mûsil (Mosul) und Küstenregionen Syriens

  3. Großbritannien: Haifa, Hafen von Haifa, Bagdad, Basra und Südmesopotamien

  4. Aufbau konföderaler Staaten für Araber oder eines gesamtarabischen Staates unter gemeinsamer französisch-britischer Kontrolle

  5. Iskenderun als unabhängige Hafenstadt

  6. Verwaltung Palästinas durch ein internationales Gremium

Großbritannien, Frankreich und Russland waren seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bemüht gewesen, das Osmanische Reich zu schwächen und anschließend zu zerstückeln. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts befand sich das Reich bereits im fortgeschrittenen Zerfallsstadium. Die europäische Teile-und-herrsche-Strategie hatte es geschafft, Völker und Glaubensgemeinschaften gegen das Osmanische Reich, aber auch gegeneinander auszuspielen. Es herrschte das reine politische und gesellschaftliche Chaos.

Sykes-Picot: jeder gegen jeden

Mit dem Ersten Weltkrieg 1914 waren Großbritannien, Frankreich, Russland einerseits und Deutschland, Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich auf der anderen Seite mit einem Machtkrieg befasst. Da aber die Federführung in der Region Frankreich und Großbritannien oblag, hatten diese 1916 inmitten des Chaos das Sykes-Picot-Abkommen entwickelt. Die Vervollständigung der Kontrolle und Ausbeutung der Region folgte nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg.

Die Oktoberrevolution 1917 in Russland war eine Intervention in das ursprünglich geplante Aufteilungskonzept von Sykes/Picot. Aufgrund dessen konnten es Frankreich und Großbritannien nicht ganz wie geplant umsetzen, da das sozialistische Russland eine eigene Konzeption verfolgte. Aus diesem Grund hatte Lenin auch das bis dahin geheim gehaltene Abkommen an die Öffentlichkeit gebracht, um Druck zu machen für eigene Interessen, was ihm zum Teil auch gelang.

Mit der Konstituierung von Nationalstaaten in der Region seit dem Ersten Weltkrieg wurden Kontrollmechanismen über Völker und Glaubensgemeinschaften geschaffen. Die »modernen« Nationalstaaten wurden auf rassistische und nationalistische Doktrinen aufgebaut, die gegen die kulturelle, politische, ethnische und religiöse Vielfalt, gegen die eigenen Bürger standen. Auf der anderen Seite kämpften diese neuen Staaten auch gegeneinander. Das heißt, während der türkische Nationalstaat gegen Kurden, Armenier, Assyrer vorging, war er zugleich in einen dauerhaften Konflikt mit den Nachbarstaaten Iran, Irak und Syrien verstrickt. Ausgangspunkt waren die per Lineal künstlich geschaffenen Grenzen. Noch immer gibt es Grenzprobleme zwischen diesen Staaten. Aber neben diesen vier Schlüsselstaaten der Region schuf auch die Ausrufung des israelischen Staates dauerhaften Zündstoff zwischen Juden und Arabern. Syrien sah in der Existenz Israels die Begründung für den ständigen Ausnahmezustand. Nicht anders verhielt es sich mit Iran und Irak. Oder Libyen, Ägypten, Jordanien etc., alle künstlich entwickelten Staaten basierten auf einer militaristischen Staatsdoktrin. Mit dieser Gesinnung bekämpften sie ihre eigenen Staatsbürger und nahmen ihre Nachbarn als ständige Gefahr und Bedrohung wahr.

Die kolonial-imperiale kurdische Karte

Die westlichen Mächte folgten der imperialen und kolonialen Gesinnung von Sykes/Picot und vervollständigten die Aufteilung auf der Konferenz von San Remo 1920; in Sèvres 1920 und Lausanne 1923 wurde vor allem die Profitabilität der kurdischen Karte erkannt. Denn nach dem Ersten Weltkrieg ist diese Spielkarte bis heute geeignet gewesen, um mit den rebellischen Kurden, die sich den türkischen, arabischen und persischen Staaten widersetzten, deren innere Instabilität zu einem Dauerzustand zu machen. Andererseits konnte mit der Behauptung »Rechte für Kurden« diese Karte gezogen werden, um von außen Druck auf diese Staaten auszuüben, sobald sie sich gegen westliche Mächte regten. Für die Kurden spielten diese Mächte dann Freund und Helfer gegen die bösen Türken, Araber und Perser. Im Gegensatz zum israelisch-palästinensischen ist die Dimension des kurdischen Konfliktes vielschichtiger: Es handelt sich um den kurdisch-türkischen, den kurdisch-arabischen und den kurdisch-persischen Konflikt. Während Türken, Araber und Perser in den Staaten Türkei, Irak, Syrien und Iran volle Rechte besaßen, wurden die Kurden in diesen Staaten entrechtet, ihrer Identität beraubt, verleugnet und unterdrückt. Hundert Jahre lang waren die Beziehungen der Kurden zu diesen Staaten von Rebellion, Konflikten und Krieg bestimmt. Begünstigte dieser Kriege und Konflikte waren Dritte: die westlichen Mächte. Den Preis bezahlten die Völker.

Hundert Jahre Sykes-Picot und das neue Kurdistan

Aufgrund der Entwicklungen ab 2000 wurde immer offensichtlicher, dass die Gesinnung der Negierung von Kurden und Kurdistan nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Die Tatsache der kurdischen Autonomieregion als föderaler Teil Iraks ab 2003 und die Deklaration des »Demokratischen Föderalen Systems von Rojava – Nordsyrien« [Rojava = kurd.: »Westen«] im März 2016 und der Demokratischen Autonomie für Bakur [kurd.: »Norden«; Südosttürkei] ab 2015 zeigen, dass auf kurdischer Seite Sykes-Picot nicht mehr akzeptiert wird. Aber auch der »arabische Frühling« hat gezeigt, dass die arabische Bevölkerung mehrheitlich für eine neue politische und gesellschaftliche Ordnung steht. Die zahlreichen Aufstände im arabischen Raum verdeutlichen, dass die hundertjährige koloniale Konstellation nicht mehr tragbar ist. Ähnlich steht es um Iran und die Türkei. Auch hier wächst die Unzufriedenheit der Völker. Daher neigt sich die Phase der Nationalstaatlichkeit, basierend auf einer Ethnie, einer Sprache, einer Religion und einer Flagge, die der Westen herbeigeführt hat, dem Ende zu.

Sowohl im arabischen Raum als auch in der Türkei und Iran gelingt es den Völkern nicht, eine Alternative zu den unterdrückerischen und undemokratischen Regimen zu realisieren, da es ihnen an revolutionärer Avantgarde mangelt. Die Kurden sind bisher noch die einzige Avantgarde im Aufstand gegen diese Regime. Und zwar deshalb, weil sie vor allem aus den Erfahrungen der Konflikte nach dem Zerfall der Sowjetunion richtigere Schlüsse gezogen haben. Der Wegfall der sogenannten ideologischen Polarisierung, gekennzeichnet durch den Kalten Krieg, führte zu einem immensen politischen Vakuum. Es entstand der politische Prozess der Multipolarität, der auch den Kurden die Chance bot, sich an politischen Prozessen zu beteiligen, insbesondere noch aktiver und offensiver in politische Entwicklungen zu intervenieren, da die Phase nach dem Realsozialismus bei etlichen Mächten erneut Appetit gemacht hatte, die neue Weltordnung zuerst über den Nahen Osten anzugehen. Recht früh ist es vor allem der PKK und Öcalan gelungen, diese neue Ordnung zu hinterfragen. Besonders vor dem Hintergrund, wo und wie Kurdistan in dieser neuen Ordnung platziert wird. Recht früh wurde erkannt, dass das Greater Middle East Project (GME) als Alternative zum bestehenden Chaos keinen besonderen Stellenwert für die Kurden haben wird. Sie sollten mit Kurdistan weiterhin für lokale wie globale Interessen instrumentalisiert werden. Vor allem war es der kurdischen politischen Führung klar, dass der »Großraum Mittlerer Osten«, entwickelt als Alternative für das Vakuum nach dem Zerfall des Realsozialismus, als neue Ordnung vor allem für den Nahen Osten nichts anderes sein würde als die Fortsetzung von Sykes-Picot.

Fortsetzung von Sykes-Picot durch das GME

Der Umbruch in Irak (Sturz von Saddam Hussein), die Afghanistan-Krise und der israelisch-palästinensische Konflikt waren lehrreiche Lektionen für die kurdische Bewegung. Für sie begann die politische Phase, die Nationalstaatlichkeit als Konfliktursache kritisch zu betrachten. Denn auch das Greater Middle East Project setzt als Lösung auf nationalstaatliche Grenzen. Aus dem einen Irak sind Grundlagen gelegt worden für einen kurdischen, einen sunnitisch-arabischen und einen schiitisch-arabischen Staat. Diese drei Komponenten können jederzeit voneinander gelöst werden, so dass noch kleinere nationalstaatliche Strukturen entstehen könnten. In diesem Bewusstsein droht die Führung der kurdischen Region in Irak ständig mit einem eigenen kurdischen Nationalstaat.

In dem Krieg in Syrien ist längst auch eine Spaltung vorgesehen. Der politischen Situation Iraks folgend gedenken westliche Mächte auch Syrien in alawitisch-arabisch, sunnitisch-arabisch und kurdisch zu separieren. Durch solche Konstellationen kann ähnlich wie im Falle Sykes-Picot die Region für weitere hundert Jahre in Chaos und Auseinandersetzungen gestürzt werden. Doch so reibungslos wird es dieses Mal nicht klappen. Denn die eigentlichen Opfer dieser globalen Planungen, die Kurden, machen in diesem neuen Spiel nicht mehr als verwendbare Karte mit. Das heißt, dass es schwierig sein wird, den bisherigen kurdisch-türkischen, kurdisch-persischen, kurdisch-arabischen Konflikt lokal als einen dauerhaften Konflikt aufrechtzuerhalten.

Die Kurden kämpfen für Frieden mit den Türken, Arabern und Persern. Sie suchen den gemeinsamen Kampf mit den Völkern gegen die kolonial-imperialen Regime, da sie in diesen die Ursache der Politik sehen, Völker gegeneinander auszuspielen. Ferner betrachten sie alle anderen ethnischen und religiösen Gemeinschaften wie die Assyrer, Turkmenen, Tschetschenen, Êzîdi, Yaresani, Kaka‘i, Drusen, Schabak, Mandäer als natürliche strategische Bündnispartner, all diejenigen, die im Konflikt mit herrschenden Regimen stehen. Das kurdische Verständnis basiert auf dem politischen und gesellschaftlichen Zusammenschluss aller, die zu Opfern des modernen Sykes-Picot-Abkommens, des GME, wurden und werden.

Kurdischer Nationalstaat als Reserve des GME

Das Greater Middle East Project sieht etwaige Korrekturen bei Sykes-Picot vor. In diesem Zusammenhang wird die Bildung eines kurdischen Nationalstaats in Irak in der Schublade aufbewahrt. Wann immer Konflikte zwischen Hewlêr (Erbil) und Bagdad oder Ankara und dem Westen aufkommen, drohen kurdische Politiker in Irak mit einem unabhängigen kurdischen Staat. Dabei steht den Kurden ein eigener Staat durchaus zu. Das Problem ist nur, warum er immer als Drohung benutzt wird. Genau an diesem Punkt ist die Frage berechtigt, wem ein solcher Staat nutzen wird, wenn er als Druckmittel gedacht ist. Soll Kurdistan, dem Konzept von Sykes/Picot und der Balfour-Deklaration vergleichbar, die Rolle eines zweiten Israels spielen? Genau wie die Araber haben selbstverständlich auch die Juden das Recht auf einen Staat. Ebenso die Palästinenser. Nur der Fakt, dass der Staat Israel immer noch als Gefahr in dieser Region begriffen wird, hat unmittelbar mit dem politischen Kalkül von Sykes/Picot zu tun. Es wird oft behauptet, die Gründung des Staates Israel sei ein Erfolg der Zionisten gewesen. Dies trifft sicherlich zu, allerdings hatten sich der Zionismus und seine Vorläufer schon lange um einen Staat bemüht gehabt. Die Tatsache, dass Sykes/Picot die Federführung im Nahen Osten über drei wesentliche Machtbereiche – Großbritanniens, Frankreichs und Israels – haben wollten, erklärt auch die Balfour-Deklaration von 1917 und die Legitimation für den Staat Israel. Bezahlen für dieses Kalkül müssen die Juden/Israelis und Palästinenser. Der israelisch-palästinensische Konflikt hat in den letzten Jahrzehnten zur Polarisierung der Region zwischen Arabern und Israelis beigetragen. Dabei handelt es sich um zwei uralte Völker der Region, die durchaus auch konfliktfrei miteinander leben könnten.

Jetzt, einhundert Jahre später, gibt es Überlegungen zu einem ähnlichen Spiel mit den Kurden.

Damit kommen wir wieder zu der alten kurdischen Trumpfkarte gegen Türken, Araber, Perser. Dabei verfügen die westlichen Mächte über andere Mittel, um die Türkei, Iran, Irak und Syrien zu zügeln. Die Kurden werden keinen Stellvertreterkrieg führen, auch wenn ihnen gegenwärtig so manche als den »tapfersten und mutigsten Kämpfern und Kämpferinnen gegen den Islamischen Staat« applaudieren.

Dieser Rahmen verdeutlicht auch, dass es heute nicht mehr einfach sein wird, den Kurden zu bestimmen, wie sie zu leben haben. Sie werden über ihre politischen und gesellschaftlichen Strukturen selbst entscheiden.

Demokratische Autonomie versus Zentralismus

Es ist jetzt sehr offensichtlich, dass die Kurden dem Status quo des 20. Jahrhunderts nicht mehr Folge leisten. Der Zerfall des Sykes-Picot-Konzepts hat erneut Chaos, Konflikte und Unruhe hervorgerufen. Ein großes politisches und gesellschaftliches Vakuum lässt sich in dieser Region verspüren. Die politischen Balancen verschieben sich fast täglich. Freunde werden schnell zu Feinden und Feinde zu Freunden, pure auf Pragmatismus und Interessenverfolgung beruhende Machtkämpfe wüten. Tod, Flucht, die Zerstörung ideeller und materieller Reichtümer drohen permanent. Mit der verbrecherischen IS-Bande können etliche Staaten ihren Machtkampf in einem geeigneten Stellvertreterkrieg ausfechten. Dieser Krieg konzentriert sich vor allem in zwei Teilen Kurdistans. Sowohl Rojava als auch Başur [kurd.: »Süden«; Nordirak] stehen vor großen Herausforderungen, denn der IS hat seine wichtigsten Stützpunkte im nordsyrischen Raqqa und im nordirakischen Mûsil (Mosul).

Die Scheinpolarisierung zwischen sunnitischem und schiitischem Block soll über Kurdistan ausgetragen werden. Einerseits erhebt die Türkei als federführende Kraft im sogenannten sunnitischen Lager Anspruch auf das politische Vakuum in Syrien und Irak, andererseits der Iran für die schiitische Seite. Da beide in einem scharfen Konkurrenzkampf stehen, fällt es ihnen heute nicht mehr so leicht, sich gegen die hundertjährige künstlich als Gefahr entwickelte kurdische Frage wie gewohnt in ein antikurdisches Bündnis zu begeben. Und dies, obwohl sich die Türkei vor allem nach der Konstituierung der Demokratischen Föderation Rojava – Nordsyrien befleißigt hat, ihre Beziehungen zu Iran wie auch zum Assad-Regime in Syrien zu erneuern. Die Bemühungen dauern an.

Aus Sicht der Türkei und Irans, aber auch Syriens ist es verständlich, dass sie im gegenwärtigen politischen Chaos den Status quo des 20. Jahrhunderts plus der Rückeroberung alter, infolge Sykes-Picot und Lausanne verlorener, Gebiete präferieren. Und vor allem sind sie nicht daran interessiert, Teile ihrer Staatsterritorien in autonomen oder föderalen Strukturen mit einer kurdischen Verwaltung zu teilen. Als absolut zentralistische Staaten hatten sie ein Jahrhundert vom kolonialen Status Kurdistans profitiert. Was wäre, wenn Syrien seinen Erdöl-, Erdgas- und wasserreichen Norden an Rojava verlieren würde, zudem mit der Grenze zur Türkei ihr Druckmittel gegen die Türken? Ähnlich verhält es sich für die Türkei in dem Fall, dass die Kurden in naher Zukunft ihre deklarierte Demokratische Autonomie schrittweise auf andere Städte Nordkurdistans ausweiten würden. Sie würde vieles verlieren, nicht nur die Kontrolle über die beiden Flüsse Euphrat und Tigris, die den arabischen Raum mit Wasser versorgen, sondern auch ihre Grenzen zu Irak, Syrien und Iran. Denn bislang galt die Türkei als NATO-Bastion gegenüber dem Osten/Asien. Und sie würde damit ihre strategische Bedeutung als Bollwerk gegen den gefürchteten Iran einbüßen. Bakur gilt aber auch als eine Energietransferroute für Erdöl und -gas von Ost nach West. Die kurdische Bewegung ist daher in den letzten Jahren, vor allem in den letzten drei Jahren des Verhandlungsprozesses zwischen dem Präsidenten der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) Abdullah Öcalan und dem türkischen Staat auf Imralı bemüht gewesen, diese Sorgen zu zerstreuen. Noch immer misstraut die Türkei den Kurden. Daher muss man Sykes-Picot eines lassen: Es ist den Urhebern gelungen, die künstlich geschaffenen Nationalstaaten Türkei, Iran und Syrien mit der kurdischen Karte in Angst und Schrecken zu versetzen, so dass die Grundlage für Vertrauen quasi bei null liegt.

Dabei wollen die Kurden mit der Demokratischen Autonomie in kurdischen Gebieten durch die Dezentralisierung lediglich eine Lösung praktizieren. Davon würden eigentlich beide Seiten profitieren. Demokratisierung durch Dezentralisierung würde es den Kurden ermöglichen, eigene Verwaltungsstrukturen aufzubauen, und der Türkei, Iran und auch Syrien die Chance bieten, nicht ständig eine Separation fürchten zu müssen. Diese Sorge nämlich hat diese Staaten zu unglaublich militaristischen Gebilden gemacht. Auf die Dauer mit Angst zu leben verhindert auch das politische, wirtschaftliche und soziale Wachstum eines Staates. Außerdem führt es dazu, dass die Bevölkerung ein Zweckbündnis mit dem Staat eingeht und sich nicht als dessen freie Bürger begreift.

Dezentralisierung bedeutet auch, dass der Staat die gesellschaftliche Vielfalt akzeptiert und die freie politische Partizipation sowie das universelle Recht auf Meinungsfreiheit ermöglicht. Im Klartext, wenn die Türkei das nicht zulässt, dann werden es sich die Bürger selbst aufbauen. Bakur befindet sich zurzeit in einem solchen Prozess. Demokratische Autonomie in diesem Zusammenhang bedeutet, dass die Bürger gegen die Entrechtung durch den Zentralismus zur Selbstinitiative greifen.

Demokratisierung durch Dezentralisierung wird in Bakur seit 1999 praktiziert, als zum ersten Mal die kurdischen Parteien Bürgermeister aufstellten. Seitdem werden die kurdischen Gemeinden ohnehin von Kurden geleitet. Die politische und gesellschaftliche Infrastruktur ist bereits geschaffen worden. In Sachen Administration verfügen die Kurden über ausreichende Erfahrung, um Groß- oder Millionenstädte wie Wan (Van) und Amed (Diyarbakır) zu verwalten. Seit fast zwei Jahrzehnten werden in Bakur die Grundlagen für die Selbstorganisierung und Selbstinitiative der Kurden gelegt, somit auch der Grundstein für die Demokratische Autonomie.

Der Erfahrungen aus der Revolution von Bakur hat sich auch Rojava bedient und war daher in der Lage, in der Kürze der Zeit trotz des brutalen Krieges des IS seine Infrastruktur aufzubauen. Das heißt, die Solidarität unter den Teilen Kurdistans hat auch ein modernes nationales Selbstbewusstsein geschaffen. Kurden lernen von Kurden. Der Erfahrungsaustausch zwischen den vier Teilen Kurdistans ermöglicht es, dass jeder Teil jederzeit in der Lage ist, Gebrauch von den historischen Momenten zu machen.

In Südkurdistan als föderalem Teil Iraks haben die Kurden im Allgemeinen seit 1991, insbesondere aber seit 2003 gelernt, die Verantwortung für die Verwaltung eines circa fünf Millionen Einwohner zählenden Landes zu tragen.

Die einstige Bestimmung Kurdistans als regionale wie internationale Kolonie ist nicht mehr so problemlos zu erfüllen, da das politische und gesellschaftliche Selbstvertrauen der Kurden immens gestiegen ist.

Allein der Fakt, dass unter ihrer Führung im vergangen März die Demokratische Föderation Rojava – Nordsyrien ausgerufen wurde, ist ein Bruch mit der kolonialen Geschichte. Angefangen bei Sykes-Picot bis hin zu den heutigen Genfer Syrienkonferenzen wurden Beschlüsse über Kurden, Kurdistan und den Nahen Osten immer außerhalb, im Westen gefasst. Zum ersten Mal haben Kurden gemeinsam mit anderen Volksgruppen und Glaubensgemeinschaften im eigenen Land, in Rojava, vom Recht der Selbstbestimmung Gebrauch gemacht.

Weder die Türkei noch Iran noch Syrien sind zu Demokratisierungsmaßnahmen fähig. Sie sind darum bemüht so zu bleiben, wie sie sind, und wollen vor allem Kurdistan als ihre Kolonie behalten. Der gegenwärtige Terror der AKP und Erdoğans ist nichts anderes als eine Reaktion auf die Entkolonialisierung von Bakur. Das Schweigen des Westens gegenüber diesem Staatsterror ist fragwürdig und lässt vermuten, dass es die AKP und Erdoğan indirekt dazu legitimiert, die widerspenstigen Kurden zu zähmen. Denn diese Kurden passen weder der Türkei noch dem Westen. Sie sind zwar hervorragende Kämpfer gegen den IS, aber auch fähige Köpfe, wenn es um den Aufbau alternativer politischer Projekte für Kurdistan und den Nahen Osten geht. Natürlich treffen damit die bislang als »Stiefkinder Allahs«, »Bergtürken« oder »Menschen aus dem wilden Kurdistan« Bezeichneten auf den arroganten Nerv derer, die sie mit diesen Zuschreibungen in dieser Rolle sehen wollten. Das uralte Volk hat für seine Existenz schon so manche Imperien, Genozide, Folter, Verwüstung, Kriege, Ausbeutung und Unterdrückung überstanden.

Hundert Jahre lang wurde das Chaos im Nahen Osten mit der kurdischen Karte garantiert, zugleich die Demokratisierung der vier Schlüsselstaaten verhindert. In diesem Zusammenhang sind die Kurden unter den aufschlussreichen Analysen Abdullah Öcalans auf den Wert dieser kurdischen Karte gestoßen. Sie konnte bislang nur destruktiv behandelt werden. Nun hat es Öcalan hundert Jahre nach Sykes-Picot geschafft, die Kurden auf die Bedeutung der bisherigen destabilisierenden Wirkung dieser Karte aufmerksam zu machen und sie zu ermutigen, das Blatt zu wenden. Über die Lösung dieser Karte versuchen die Kurden, ihre Freiheit zu erlangen, und parallel dazu demokratisieren sie Kolonialstaaten. Deshalb ist ihre Forderung nach Autonomie zugleich eine Forderung nach Demokratie für diese Staaten. Eine Unterstützung für die kurdischen Forderungen oder deren Ablehnung wird den Maßstab für die Ernsthaftigkeit der Demokratie bilden. Sieht es der Westen ein, so kann dieser Prozess ohne weiteres Blutvergießen vonstattengehen. Deshalb müssen die Türkei, Iran und auch Syrien mit politischen, diplomatischen und rechtlichen Mitteln dazu bewegt werden, die Rechte der Kurden, aber auch aller Volksgruppen und Glaubensgemeinschaften, die unter diesen Regimen gelitten haben, anzuerkennen.

Eines ist sicher: Das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 ist in Kurdistan überwunden. Eine Fortsetzung, ob sie als GME oder anderes daherkommt, werden die Kurden nicht mehr hinnehmen. Die Devise heißt: freies autonomes Bakur – demokratische Türkei; föderales Rojava-Nordsyrien – demokratisches Syrien; autonomes Rojhilat [kurd.: »Osten«; Nordwestiran] – demokratischer Iran; föderales Başur – demokratischer Irak. Mit diesem Konzept erarbeiten und entwickeln die Kurden ihr Modell gegen das Sykes-Picot-Konzept. Und sind bei der Durchsetzung auf dem besten Wege. Damit leisten sie auch ihren Beitrag zu demokratischem Wandel in der Region.

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