Wer zusieht und diese Kriegsverbrechen zulässt, macht sich mitschuldig
Songül Karabulut, Bewertung aus der Ausgabe 184 des Kurdistan Reports, März 2016
Es gibt zwei Alternativen, mit ausbleibenden Ergebnissen umzugehen. Die erste besteht darin zu schauen, ob der Lösungsansatz vielleicht falsch war, um ihn zu korrigieren und weiter an der Lösung zu arbeiten, oder zu glauben, der Lösungsansatz sei nicht ausreichend genug vertreten und umgesetzt worden. Die zweite führt dazu, noch fester auf diesem Ansatz zu beharren.
Was momentan in der Türkei passiert, kann, denke ich, vor diesem Hintergrund beleuchtet werden.
Staatliche Gewalt in den Stätten in NordkurdistanZur Existenzgrundlage der Türkei gehört es seit ihrer Gründung, alle Multiidentitäten ihrer Gesellschaften zu türkisieren und somit zu vereinheitlichen. Auch wenn es 2002 zu einem Wechsel in den Regierungsstrukturen der Türkei kam und mit der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) eine islamische Partei die Macht von der kemalistischen Elite übernahm, so führte das nicht automatisch dazu, dass diese Grundlage der Republik verändert wurde. Die klassische Staatsdoktrin, türkisch-islamische Synthese genannt, hatte bis zur Machtübernahme der AKP das Türkische als Priorität, das Islamische war eher sekundär gewesen. Mit der AKP wurde die islamische Identität in den Vordergrund gerückt. Zum einen deshalb, weil westliche Staaten gegen die zunehmende Radikaliserung des politischen Islam, vor allem gegen die iranische Schia, einen gemäßigten Islam als Modell förderten. Das entsprach auch türkischen Staatsinteressen, weshalb Armee und Bürokratie als Hüter des Staates grünes Licht gaben. Über das Etikett Islam war es einfacher, im Nahen/Mittleren Osten Bündnisse zu schließen, um so türkische Expansionsbestrebungen zu vereinfachen. Die islamische Karte eignete sich auch bestens, um die Kurden erneut unter das Dach des Staates zu holen. »Wir sind alle Muslime und Brüder«, war ein Satz, den der vormalige Minister- und jetzige Staatspräsident Erdoğan jahrelang gegenüber den Kurden gebrauchte. Die Behauptung, mit der AKP habe sich die Türkei verändert, trifft daher nicht ganz zu. Vor allem jetzt, da das eigentliche Gesicht der AKP und damit des Staates entlarvt worden ist.
Im Gegenteil, die AKP vertritt heute mehr als alle anderen zuvor die »zentralistischen«, »autokratischen« und »diktatorischen« Charakterzüge dieser Republik. Obwohl Erdoğan 2005 in Amed (Diyarbakır) in einer Ansprache einräumte, der Staat habe in der Vergangenheit im Umgang mit den Kurden Fehler begangen, so fehlt dennoch der Wille, diese Fehler zu korrigieren, um die kurdische Frage ernsthaft zu lösen. Momentan haben wir es mit einer AKP zu tun, die noch stärker als je zuvor an der Vernichtungspolitik festhält in der Hoffnung, dass es diesmal klappen könnte.
Die AKP-Regierung war zu keiner Zeit bereit, die Demokratieprobleme in der Türkei ernsthaft zu lösen
Nachdem der türkische Staat am 30. Oktober 2014 auf der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats einen umfassenden Krieg gegen die kurdische Bewegung und die demokratischen Kräfte beschlossen hatte und ihn nach dem Zivilputsch am 8. Juni (trotz Verlust der Regierungsmehrheit in der Parlamentswahl am 7. Juni übte die AKP-Regierung illegalerweise weiterhin die Macht aus, annullierte das Wahlergebnis) umzusetzen begann, haben die Entwicklungen in der Türkei eine ganz andere Dimension erreicht. Die staatliche Lüge, der Friedensprozess sei infolge des Anschlags auf Polizisten in Serê Kaniyê (Ceylanpınar) durch die Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) im Juli zu Ende gegangen, ist nun auch durch die Äußerung Ministerpräsident Davutoğlus auf dem Rückflug von seinem Niederlande-Besuch am 10. Februar vollkommen demaskiert. Er soll Medienberichten zufolge gegenüber Journalisten erklärt haben: »Auf dem Sicherheitstreffen nach den Ereignissen vom 6. bis 8. Oktober habe ich – weil sich irgendwo in meinem Kopf der Verdacht breitmachte, dass sie [gemeint ist die PKK] den Lösungsprozess beenden würde – an unsere Soldaten und Polizisten eine Anweisung erteilt: Seid vorbereitet auf das Ende der Lösungsphase. Wenn ich euch eines Tages sage, der Tag ist gekommen, dann sollten all eure Vorbereitungen getroffen sein.«1
Der Grund dafür, warum diese Phase für den Staat und die AKP-Regierung von strategischer Bedeutung ist, liegt darin, dass das System, auf dem der Staat aufbaut und mit dem sich auch die AKP und Erdoğan vereint haben, zu bröckeln begonnen hat. Der Staat versucht nun diese Mentalität und dieses System mit seinem Krieg zu restaurieren und deren Weiterexistenz zu gewährleisten.
Dieses auf nationalistische und nationalstaatliche Mentalität gestützte System betrachtet das kurdische Volk und Kurdistan als Existenzgrundlage für das Türkentum und die Türkei. Es handelt sich aber um kein Verständnis, nach dem die Türken mit den Kurden, Kurdistan mit Anatolien zusammen in einer gemeinsamen symbiotischen Beziehung stehen und sich gegenseitig befördern. Im Gegenteil, es ist eine Mentalität, derzufolge die Kurden mitsamt ihren materiellen und ideellen kulturellen Werten assimiliert werden und Kurdistan mit all seinen unter- und überirdischen Reichtümern ausgebeutet wird. In dieser Mentalität hängt die Existenz des Türkentums und der Türkei mit der Vernichtung des Kurdentums und Kurdistans zusammen. Aus diesem Grunde werden alle positiven Entwicklungen im Zusammenhang mit den Kurden und Kurdistan als Überlebensfrage betrachtet und mit aller Kraft – koste es, was es wolle – zu verhindern versucht.
Um die strategische Bedeutung dieser Phase zu begreifen, ist es wichtig zu erkennen, dass der türkische Staat in keiner Weise die Demokratieprobleme der Türkei, allen voran die kurdische Frage, ernsthaft zu lösen bereit war. Sogar mit der Aufnahme des Dialogs mit der kurdischen Bewegung und Abdullah Öcalan wurde das Ziel verfolgt, die kurdische und demokratische Opposition in Kurdistan und in der Türkei mittels Hinhaltetaktik zu zerschlagen.
Aber die Rechnung des Staates ging nicht auf, die kurdische Bewegung hat es geschafft, diese Beziehung dafür zu nutzen, den Kampf um Demokratie und Freiheit zu stärken. Als der Staat dies erkannte, hat er keine Minute gezögert, diesen »Friedensprozess« einseitig zu beenden.
Folglich sind für den jetzigen Staat und die Regierung sowohl der »Dialog« als auch der ausufernde Krieg unterschiedliche Methoden für dasselbe Ziel: Zerschlagung der kurdischen Bewegung und demokratischen Opposition in der Türkei. Der Staat hat nicht die Absicht und den Willen, die Demokratieprobleme der Türkei sowie die kurdische Frage zu lösen. Die Intensität und die Art und Weise, mit welcher Feindseligkeit der AKP-Staat den Krieg gegen die Kurden führt, veranschaulichen, dass die AKP in der bisherigen staatlichen Verleugnungs- und Vernichtungspolitik keinen Fehler sieht, sondern vielmehr glaubt, sie nicht ausreichend und umfangreich genug vertreten zu haben. Wie sonst ist es zu erklären, dass alle bislang in den letzten vierzig Jahren gegen das kurdische Volk eingesetzten Methoden des schmutzigen Krieges heute noch stärker, brutaler und barbarischer umgesetzt werden?
Das »Zehn-Punkte-Lösungskonzept« der Regierung
Während die AKP-Regierung die kurdische Bevölkerung militärisch terrorisiert, indem sie ganze Stadtteile über Wochen zu Kriegsgebieten mit Ausgangssperren erklärt, gezielt Menschen ermorden, die Stadtviertel mitsamt Kulturgütern bombardieren und zerstören, Menschen lebendig verbrennen lässt, d. h. die kurdische Bevölkerung einer kollektiven Bestrafung unterzieht und einzuschüchtern versucht, tischt Davutoğlu ein neues Zehn-Punkte-Lösungskonzept auf (die Zehn dürfte nicht zufällig gewählt worden sein, sondern eine Anspielung auf die zehn Punkte der Dolmabahçe-Deklaration vom Februar 2015 darstellen; die AKP-Regierung legt auf diese Weise ihren eigenen Lösungsplan vor).
Er stellte am 5. Februar in Mêrdîn (Mardin) die Richtlinien für ein neues Lösungskonzept ohnegleichen namens »Terrorbekämpfungs-Aktionsplan« vor.
In dessen Rahmen sollen zwar die Befugnisse der Kommunen erweitert, zugleich aber Maßnahmen ergriffen werden, damit diese Befugnisse nicht »missbraucht« werden und der öffentliche Dienst nicht vernachlässigt wird. (Hier sind von der Partei der Demokratischen Regionen BDP verwaltete und im Interesse der kurdischen Bevölkerung agierende Kommunen gemeint.) Davutoğlu unterstrich, dass der Staat die Türkei von Waffen säubern und eine neue Phase des Zusammenlebens und der Geschwisterlichkeit beginnen werde. Auch gibt es Anhaltspunkte, wie der Staat das anstellen will. Während die kurdische Bevölkerung militärisch terrorisiert wird, sollen die Menschen mithilfe finanzieller »Anreize« (Entschädigungen etc.) dazu gebracht werden, sich von ihrem Kampf zu distanzieren.
Die »Nation« würde zum Gesprächspartner erklärt werden, es würde ein Beraterstab aus Zivilgesellschaft und Meinungsführern gebildet werden. Wer wird z. B. auf kurdischer Seite zum Träger dieses Konzeptes? Dafür sind drei unterschiedliche Gruppen vorgesehen. Für die Sicherheit werden die Dorfschützer einbezogen, für die Religion als zweite Gruppe die Mullahs und die »Meles« (früher inoffizielle und seit 2011 dem Amt für Religionsangelegenheiten zugeordnete islamische Lehrer) und für den politischen Bereich als dritte Gruppe Hüda-Par (Partei der Freien Sache, gilt als Nachfolgerin der 2000 zerschlagenen türkischen Hizbullah) und andere, der PDK (der südkurdischen Demokratischen Partei Kurdistans unter Barzanî) nahestehende, Gruppen wie die Sozialistische Partei Kurdistans (PSK). Öcalan, die PKK oder gar die Demokratische Partei der Völker (HDP) sind nicht Teil dieses Konzeptes.
Zu Recht stellt sich die Frage: Was ist neu daran? Wurde nicht schon immer die kurdische Frage als Terrorfrage abgetan und mit Sicherheitsmaßnahmen zu lösen versucht?
Und wurde nicht schon immer, anstatt die Konfliktparteien einzubeziehen, der Versuch unternommen, Gruppen gegen die kurdische Bewegung aufzubauen, wie in diesem Fall auch vorgesehen? Wurde nicht schon in der Vergangenheit Religion als Waffe gegen die Kurden instrumentalisiert?
Also sehen wir erneut, dass die AKP-Regierung fester als je zuvor auf der bisherigen Vernichtungspolitik beharren wird.
Die außenpolitische Situation
Auch die außenpolitischen Ambitionen der AKP-Regierung stehen in diesem Zusammenhang. Die Entsendung türkischer Soldaten ins nordirakische Mûsil (Mosul) sowie die Verhinderung einer kurdischen Vertretung Rojavas (»Westen«, der syrische Teil Kurdistans) bei Genf III gehören in den Kontext dieser neuen Phase. Allein diese beiden Beispiele reichen aus zu beweisen, dass die Türkei ihren Krieg gegen die Kurden nicht allein auf die Belagerung und Bombardierung von Städten und Stadtteilen in Bakur (»Norden«, der türkische Teil Kurdistans) begrenzt.
Die Absicht hinter der Entsendung türkischer Soldaten nach Mûsil [vgl. KR 183, S. 28 ff.] ähnelt der Offensive, als es damals 2014 in die Hände des sogenannten Islamischen Staates (IS) fiel. Auch wenn – aufgrund zunehmenden internationalen Drucks – der Anschein erweckt werden soll, es bestehe eine gewisse Distanz zwischen der Türkei und dem IS, so ist doch ersichtlich, dass das Konzept, auf das sich die Türkei, die PDK, Saudi-Arabien und Qatar in Amman geeinigt hatten, noch immer aktuell ist und nun mit anderen Mitteln umzusetzen versucht wird. Der Plan von Amman sieht vor, in Irak und Syrien einen an die Türkei und Saudi-Arabien gebundenen großen sunnitisch-arabischen Staat zu gründen und auf diese Weise die Revolution in Rojava zu ersticken, die eigene Macht hier zu institutionalisieren. Ferner soll damit der iranisch dominierten schiitischen Macht entgegengewirkt werden. Welchen Teil die PDK dabei bekommen wird, ist fraglich, da weder die Türkei noch Saudi-Arabien eine kurdenfreundliche Politik betreiben. Die für den sunnitisch-arabischen Staat projektierte Region verfügt über reiche Erdöl- und -gasvorkommen.
Das ist auch einer der Gründe, warum der IS in diesen Gebieten von der Türkei, Saudi-Arabien und Qatar auf verschiedene Art und Weise gestärkt wird. Er fungiert daher als unkonventionelle Armee bestens für solche Zwecke. Weil er mit dem Widerstand in Kobanê gebrochen ist und seitdem immer mehr Gebiete an rivalisierende, ja sogar »feindliche« Kräfte verliert – so zum Beispiel Nordsyrien und Rojava an die Volks-/Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) sowie an die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD); auch haben die Regime Russlands, Irans, Iraks und Syriens weitere Gebiete unter IS-Herrschaft zurückerobert –, musste der Plan von Amman revidiert werden.
Die Türkei hatte, dem Konzept des Aufbaus eines sunnitisch-arabischen Staates folgend, militärische Einheiten nach Bashiqa nahe Mûsil verlegt. Russland und Iran drohten der türkischen Armee, selbst Militär zu schicken. Die USA, die UNO setzten die Türkei unter Druck, weshalb sie ihre Soldaten in andere Gegenden Irakisch-Kurdistans verlagerte.
Mûsil soll kurzfristig der Kontrolle sunnitischer Araber, in gemeinsamer Führung mit der Türkei, unterstellt werden. Der Fakt, dass der Machtkampf um das Kalifat zwischen den sunnitischen Arabern und der sunnitischen Türkei eine lange Geschichte hat, lässt auch zu der Behauptung verleiten, dass das türkisch-saudi-arabische Bündnis nicht von langer Dauer sein wird. Beide verbindet ihre antischiitische/antiiranische Haltung. Daher ist ihr Bündnis mehr taktischer denn strategischer Natur, ein klares Zweckbündnis.
Mittel- und langfristig soll der Einfluss der Gruppen von Amman in der Region gestärkt, parallel der politische und militärische Spielraum der kurdischen Bewegung eingeschränkt und diese mit dem bereits begonnenen umfassenden Krieg gar liquidiert werden. Die PDK in Başûr (»Süd«kurdistan) ist ebenfalls involviert. Sie sieht mit der Stärkung und Legitimierung der kurdischen Bewegung in Rojava ihre eigene Existenz bedroht; darum ihr strategisches Bündnis mit der Türkei. Sie erhofft sich Vorteile aus dem Krieg der Türkei gegen die Kurden in Bakur und Rojava, die ihre eigene autokratische Macht infrage gestellt haben.
Einst gab es starke Indizien für die Errichtung eines kurdischen Staates in Nordirak. Die rapiden und radikalen Entwicklungen in Rojava, also eine zweite de facto kurdische Autonomie in Nordsyrien nach der Autonomen Region Kurdistan (Kurdistan Regional Government, KRG) in Nordirak, lassen in nationaler wie internationaler Hinsicht keinen politischen Freiraum für einen unabhängigen kurdischen Staat. Gegenwärtige diesbezügliche Äußerungen von PDK- und KRG-Präsident Barzanî sind mehr Propagandazwecken geschuldet, um der Unzufriedenheit der Bevölkerung über seine Machtausübung zu begegnen. Denn in der KRG herrscht seit August letzten Jahres eine schwere politische Krise, die sich in einer schlechten Wirtschaftslage und Druck auf die Bevölkerung ausdrückt. Am 10. Februar 2016 erklärte der strategische Freund Mesûd Barzanîs, Recep Tayyip Erdoğan: »Den Fehler, den wir in Nordirak gemacht haben, werden wir in Nordsyrien nicht wiederholen.« Hiermit gibt er deutlich zu verstehen, dass eine türkischen Invasion 2003 die kurdische Autonomie in Nordirak, also KRG, hätte verhindern können.
Auch hinter dem Abschuss des russischen Flugzeugs im syrisch-türkischen Grenzgebiet am 24. November verbirgt sich dieselbe Absicht. Ziel war es, die NATO gegen Russland in Position zu bringen, um die NATO de facto in die eigene Bankrottpolitik in Syrien und Irak einzubeziehen. In dem Falle würde die Türkei aus NATO-Sicht an strategischer Bedeutung gewinnen, der kurdische Widerstand dagegen die seine verlieren, und wenn möglich würde die NATO sogar gegen die kurdischen Kräfte in Bewegung zu setzen versucht werden.
Das gefährliche Spiel mit dem Leben der Flüchtlinge, mit dem die Türkei von der EU politische Unterstützung zu erpressen hofft, wird mittel- und langfristig nach hinten losgehen.
Europa soll über die Flüchtlingsfrage zum Mittäter gemacht werden
Die Flüchtlingskrise hat sich für Europa zu einem ernsten Problem entwickelt. Merkel besuchte allein in den letzten vier Monaten die Türkei drei Mal. Der erste Besuch war am 18. Oktober, nur zwei Wochen vor der türkischen Parlamentswahl, der zweite im November 2015 im Rahmen des G-20-Gipfels und der letzte am 8. Februar.
In den letzten vier Monaten vor dem 10. Februar trafen sich Merkel und Davutoğlu sieben Mal. Merkel versucht Davutoğlu dazu zu bewegen, die Flüchtlinge zurückzuhalten.
Kritik an der Türkei im Hinblick auf Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Justiz, Achtung der Menschenrechte u. a. ist für die Bundesregierung momentan uninteressant. Den Grund nannte jüngst Bundesinnenminister Thomas de Maizière auf die Frage eines Journalisten, warum eine derartige Kritik ausbleibe: »Alle, die uns jetzt sagen, man muss die Türkei von morgens bis abends kritisieren, denen rate ich, das nicht fortzusetzen. Wir haben Interessen. Die Türkei hat Interessen. Das ist ein wichtiger Punkt. Natürlich gibt es in der Türkei Dinge, die wir zu kritisieren haben. Aber die Türkei, wenn wir von ihr etwas wollen wie, dass sie die illegale Migration unterbindet, dann muss man auch Verständnis dafür haben, dass es im Zuge des Interessenausgleichs auch Gegenleistungen gibt.« Hier stellt sich die Frage, was sind denn die deutschen und die türkischen Interessen?
Der Konflikt mit der Türkei spitzt sich aktuell erneut zu. Nach den Angriffen auf Helep (Aleppo) stauen sich die Flüchtlinge an der syrisch-türkischen Grenze, die Türkei verweigert ihre Aufnahme. Sie will ihre langjährige Forderung nach einer Pufferzone verwirklicht haben. Es scheint, dass Europa und besonders Deutschland unglücklich sind mit dem Partner Erdoğan. Wie weit EU und Bundesregierung zu Zugeständnissen an die Türkei bereit sein werden, vermag man sich kaum vorzustellen.
All die Vorhaben und politischen Manöver der Türkei spielen sich zum Zeitpunkt ihres innen- wie außenpolitischen Scheiterns ab. Es ist der Versuch, die Krise durch deren Verschärfung zu überwinden. Die Türkei zeichnet sich momentan durch ihre aggressive, brutale, einschüchternde, grobe Innen- und Außenpolitik aus. Selbst die Reise von Staatspräsident Erdoğan nach Ecuador war ein Skandal. Seine Leibwächter fühlten sich wie zu Hause, sie gingen brutal gegen Demonstranten vor, traten Frauen im Genital- und Brustbereich, verprügelten den Abgeordneten Diego Vintimilla.
Das ehemalige Motto der Türkei »yurtta sulh, cihanda sulh« – Friede in der Heimat, Friede in der Welt – scheint einen Wandel erfahren zu haben: »Yurtta sus, cihanda sus« – Schweigen in der Heimat, Schweigen in der Welt –, wie es die politische Karikatur auf einem Titelblatt thematisierte. (siehe Karikatur)
Wer dem keinen Einhalt gebietet, wird überrollt werden
Der türkische Staat hat nicht die Fähigkeiten, sich aus diesem Teufelskreis zu befreien, sodass nur mit einem großen Widerstand, der die Vernichtungs- und Verleugnungspolitik des Staates durchbricht, eine neue Phase eingeleitet werden kann.
Vor diesem Hintergrund sollten der Widerstand und die Selbstverwaltung der Kurden nicht als taktische Offensive verstanden werden. Die Deklaration der Selbstverwaltung hat den wahren Geist der AKP-Regierung freigesetzt. Die AKP hat in den letzten sechs Monaten gezeigt, dass sie sich als Kolonialmacht in Kurdistan sieht. Bevor sie militärisch interveniert, zieht sie die Lehrkräfte und die Familienangehörigen ihrer Sicherheitskräfte aus den kurdischen Gebieten ab, um mit aller Wucht zuschlagen zu können. Nachdem in Cizîr (Cizre) seit über zwei Wochen insgesamt 28 Menschen, darunter 19 Verletzte im Keller eines Wohnblocks festgesessen und vergeblich auf die Ambulanz gewartet hatten (in der Zwischenzeit verloren acht Menschen ihr Leben), kam es am Abend des 7. Februar zu mehreren starken Explosionen. Es wurde bekannt, dass sich in drei Kellern insgesamt 138 überwiegend Verletzte aufgehalten hatten. Bis jetzt (12. Februar) sind 110 Leichen geborgen worden. Was mit den restlichen 28 Menschen ist, bleibt noch unklar. Die Wahrscheinlichkeit, dass auch sie massakriert wurden, ist groß.
Der Grund dafür, warum diese Phase für das kurdische Volk und die demokratischen Kräfte in der Türkei strategische Bedeutung hat, liegt in der Perspektive, diese bröckelnde reaktionäre Mentalität und das dazugehörige System mit einem starken Widerstand zu durchbrechen und an deren Stelle die türkische Republik in ihren Grundzügen und Grundfesten durch ihre Demokratisierung zu erneuern. Vor diesem Hintergrund können wir feststellen, dass der Kampf dieser entgegengesetzten Mentalitäten, der in der Türkei momentan stattfindet, nicht nur in politischer, sondern auch in ideologischer Hinsicht von strategischer Bedeutung ist.
Der Widerstand von Amed-Sûr, Cizîr, Nisêbîn (Nusaybin), Kerboran (Dargeçit), Silopiya, Gever (Yüksekova), Farqîn (Silvan), Licê und Gimgim (Varto) ist daher nichts anderes als der Widerstand eines unterdrückten Volkes gegen eine Kolonialmacht.
Dieser Widerstand unterscheidet sich nicht von dem von Johannesburg oder Cape Town gegen das Apartheidregime in Südafrika oder von dem in Madrid oder Barcelona gegen den Franco-Faschismus. Wenn sich dieser Flächenbrand nicht ausweiten und die gesamte Region erfassen soll, muss heute gehandelt werden. Wer zusieht und diese Kriegsverbrechen zulässt, macht sich mitschuldig. Mitschuldig am Genozid an Kurden, mitschuldig an der Verschärfung des Chaos und der Krise in der Region und selbstverständlich mitschuldig an der Zunahme der Flüchtlingszahlen.